Rettungswesten in leuchtendem Orange machen an vielen Kirchtürmen und Gemeindehäusern darauf aufmerksam, dass immer noch Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken. Seit dem 27. September hängt auch an der Gemeinde am Döhrener Turm ein solches Zeichen. Frank Hellberg vom Arbeitskreis Weltverantwortung erklärt, warum sich die Gemeinde zu diesem Schritt entschlossen hat.
Frank, warum hängt eine Rettungsweste an eurem Gemeindehaus?
Frank Hellberg: Auf dem Mittelmeer spielt sich ein Drama ab. Seit Anfang 2019 sind dort fast 700 Menschen* ums Leben gekommen bei ihrem Versuch, nach Europa zu gelangen. Wer von uns würde in ein wackeliges, überladenes Schlauchboot steigen und versuchen, damit bei Seegang, Wind und Wetter das offene Meer zu überqueren? So ein Risiko geht man nur ein, wenn es keine anderen Optionen gibt. Die Menschen werden von der nackten Verzweiflung getrieben: Entweder Europa erreichen oder sterben. Seit über 10 Jahren geht das schon so. Und der Skandal ist, dass Europa nur zuschaut. Es gibt keine organisierte Form der Seenotrettung. Es gibt keine politischen Antworten.
Was will die Gemeinde erreichen?
F.H.: Wir möchten ein sichtbares Zeichen der Solidarität setzen mit diesen ärmsten aller Geflüchteten. Wir möchten an die Organisationen erinnern, die in der Seenotrettung aktiv sind, z.B. Ärzte ohne Grenzen. Ihre Arbeit wird erschwert von den Anrainerstaaten, Kapitäne wurden verhaftet. Frontex hat sich zurückgezogen. Selbstverständliches mitmenschliches Handeln, die Rettung aus Seenot, wird kriminalisiert. Wir möchten die Regierungen an ihre Verantwortung erinnern. Die Schwimmwesten sind ein Zeichen von der Basis: „Wir müssen uns kümmern. Die Politik versagt.“
Aber gibt es nicht auch Fortschritte?
F.H.: Ja, zum Glück. In einem ersten Schritt hat ein Teil der Mittelmeeranrainerstaaten sich jetzt geeinigt (Deutschland, Malta, Italien, Frankreich). Und unser Innenminister Horst Seehofer hat bekräftigt, dass Deutschland künftig ein Viertel der auf dem Mittelmeer Geretteten aufnehmen wird. Auch 100 Kommunen in Deutschland haben sich zu „sicheren Häfen“ erklärt. In der „Potsdamer Erklärung“ haben sie zugesagt, über das gesetzlich vorgeschriebene Kontingent hinaus zusätzliche Flüchtlinge aufzunehmen.
Natürlich verstehen wir, dass Italien und Griechenland mit so vielen Geflüchteten überlastet sind und abwehrend reagieren. Allein in Moria (Lesbos) leben zurzeit mehr als 10.000 Menschen in einem Lager, dass nur eine Kapazität von 3.000 Plätzen hat. Zu lange haben die anderen europäischen Staaten sie mit diesem Problem alleingelassen. Wir möchten mit unserer Aktion die Entscheidungsträger in der Politik ermahnen, endlich vernünftige Lösungen zu finden.
Wer hatte die Idee zu dieser Aktion?
F.H.: Die Aktion wurde angestoßen von den Flüchtlingswohnheimen unserer Gemeinde und vom Arbeitskreis Weltverantwortung (offizielles Statement im Wortlaut). Schon 2018 haben evangelische Kirchengemeinden begonnen, auf das Drama aufmerksam zu machen. An vielen kirchlichen Häusern bundesweit sind Rettungswesten aufgehängt worden. Auch 16 Gemeinden in Hannover haben für eine begrenzte Zeit dieses Zeichen gesetzt. Wir finden das gut und möchten uns beteiligen. Im Flüwo erleben wir seit vielen Jahren hautnah, was Flucht bedeutet. Wir sehen die Verzweiflung der Menschen und trauern mit ihnen um die Verwandten, die sie in oft katastrophalen Zuständen zurücklassen mussten. Als Gemeinde, die sich einer solchen diakonischen Aufgabe stellt, müssen wir auch weiterdenken an die Menschen, die in Seenot geraten.
Für viele ist Europa einfach die letzte Möglichkeit. Junge Menschen aus afrikanischen Krisenländern, Afghanistan oder Syrien wollen nicht länger in irgendwelchen Lagern herumhängen, sondern zur Schule gehen. Sie wollen in einem sicheren Land leben ohne Bürgerkrieg. Sie wollen raus aus der Armut und etwas aus ihrem Leben machen. Deswegen suchen sie einen Weg, nach Europa zu gelangen.
Immer wieder hört man den Vorwurf, dass die Seenotrettung indirekt den Schleppern in die Hände spielt.
F.H.: Es gibt natürlich Leute, die an dem Geschäft mit der Hoffnung verdienen. Aber die Seenotrettung einzustellen, also die Geflüchteten einfach ertrinken zu lassen, ändert nichts daran, dass immer wieder neue Flüchtlinge sich auf den Weg machen. Das sieht man daran, dass allein in diesem Jahr bereits fast 35.000 Menschen* in die Boote gestiegen sind, obwohl es kaum Rettungsschiffe gibt zurzeit. Ja, es ist schlimm, dass die Schlepper das ausnutzen. Aber was wäre unsere Alternative? Wegschauen?
Was sollten Verantwortliche in der Politik deiner Meinung nach konkret tun?
F.H.: Die Situation auf dem Mittelmeer muss entschärft werden. Die Seenotrettung darf nicht kriminalisiert werden, sondern sie muss von staatlicher Seite gefördert werden. Geflüchtete müssen gleichmäßig in europäische Länder verteilt werden. Und vor allem: Wir Europäer müssen nach Kräften dazu beitragen, bessere Lebensbedingungen vor Ort zu schaffen, damit die Menschen in ihrer Heimat bleiben können. Über den Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland werden zum Beispiel syrische Flüchtlinge im Libanon unterstützt.
Vielen Dank für das Gespräch. Hoffen wir, dass sich etwas bewegt.
Interview: Ulrike Landt
*Quelle: UNHCR, https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/hilfe-weltweit/mittelmeer/ (Abruf am 27.09.2019)